Gießener Anzeiger: Bericht über Flüchtlingshilfe

Friederike Heinl unterstützt mit 50 weiteren ehrenamtlichen Helfern das Flüchtlingsprojekt im Osten Gießens. // Foto: Friese
Friederike Heinl unterstützt mit 50 weiteren ehrenamtlichen Helfern das Flüchtlingsprojekt im Osten Gießens. // Foto: Friese

Von Christian Rüger

 

GIESSEN - „Super. Bisher hast du an allen Unterrichtseinheiten teilgenommen“, freut sich Friederike Heinl und macht ein Kreuz in der Anwesenheitsliste hinter den Namen von Muna Mohamed Gaal. Die junge Frau aus Somalia lacht. Auf ihrem Namensschild fallen sofort die 13 blauen Punkte im oberen rechten Eck auf. Jeder Punkt steht für eine Unterrichtsstunde. 21 Teilnehmer haben sich an diesem Morgen im Saal der Pfarrei St. Thomas Morus versammelt. Beim Betreten des Raumes grüßen sie wie selbstverständlich mit einem

„Guten Morgen“, nehmen sich ihr Namensschild und setzen sich an eine der aufgebauten Tischgruppen. Auf einem Smartphone leuchtet die Uhrzeit 10.01 auf. Heribert Ohlig erhebt sich von seinem Stuhl und bittet um Ruhe. Nicht sofort findet die Bitte des ehemaligen Leiters der Gesamtschule Gießen-Ost Gehör. Doch nach wenigen Sekunden ist das Stimmengewirr verstummt.

Seit dem 25. Januar bieten die evangelische Andreas- und Luthergemeinde sowie die katholische Pfarrei St. Thomas Morus das „Ökumenische Flüchtlingsprojekt Gießen-Ost“ an. In diesem erlernen Frauen und Männer aus Somalia an drei Wochenterminen die deutsche Sprache. „An zwei Nachmittagen finden zudem Deutschkurse für Frauen samt einer Kinderbetreuung statt“, erzählt Pfarrer Dr. Gabriel Brand von der Andreasgemeinde bei einem Pressegespräch. Betreut werden die Flüchtlinge von 50 ehrenamtlichen Helfern. Ein Teil der Schüler kommt aus Landkreisgemeinden und wird mit dem Bus der Pfarrei St. Thomas Morus abgeholt. „Die Fahrtkosten werden nicht durch die Stadt und den Landkreis gedeckt“, betont Brand. Das Projekt wird allein durch die drei Kirchengemeinden getragen und findet finanzielle Unterstützung durch das evangelische Dekanat Gießen.

„Wir haben auch Fahrräder organisiert, mit denen die Teilnehmer zum Unterricht kommen“, erzählt Friederike Heinl. Sie gehört ebenfalls zu dem Pool an Lehrern. Von Freunden sei sie gefragt worden, ob sie denn nicht Angst habe, Flüchtlinge zu unterrichten. „Nein, Angst habe ich wirklich nicht gehabt. Ich war eher gespannt“, berichtet die ehrenamtliche Helferin und widmet sich wieder einer fünfköpfigen Gruppe, die Fragen zu Präpositionen auf einem Arbeitspapier beantwortet. Der Blick geht dabei immer wieder Richtung Tafel. Dort ist das Alphabet von A wie Apfel bis Z wie Zaun im wahrsten Sinne des Wortes abgebildet. 

Das Niveau ist sehr unterschiedlich. Für einige Kursteilnehmer wird der Radiergummi zum wichtigsten Utensil an diesem Morgen. „Viele Frauen und Männer haben zuvor noch keine Schule besucht. In Somalia sind rund 50 Prozent der Männer und zwei Drittel der Frauen Analphabeten“, hat sich Heribert Ohlig im Vorfeld informiert. Nach zwei Monaten können aber fast alle Kursteilnehmer schon schreiben. Auch dank der Hilfe von Ulrich Voigt. Der ehemalige Lehrer der Ricarda-Huch-Schule gehört ebenfalls zu den ehrenamtlichen Lehrern und wandert von Tisch zu Tisch, um die Schüler zu korrigieren. „Es ist fast wieder so wie früher“, bemerkt Ohlig mit einem Lachen.

Der Ursprung des Projekts liegt schon etwas weiter zurück, erzählt Marcel Dossou, der im Gießener Ausländerbeirat tätig ist. Bei einer Adventsfeier 2014 hätten Frauen und Männer aus Eritrea den Wunsch nach einem Deutschunterricht geäußert, erinnert er sich. Vor knapp einem Jahr begannen dann die Deutschkurse in der Pfarrei St. Thomas Morus – damals noch mit Teilnehmern aus Eritrea. Auch in der Luthergemeinde wuchs wenig später die Idee, „ausländischen Gästen“ zu helfen. „Wir wussten aber, dass wir das nicht alleine stemmen können“, erzählt Pfarrer Klaus Friedemann Pötz. Einen ersten Kontakt zwischen den drei Kirchengemeinden gab es dann beim ökumenischen Gemeindefest im vergangenen Sommer. Damals bestand der Pool der ehrenamtlichen Helfern noch aus fünf Personen. 

Einjähriges Projekt

„Gemeinsam ist man einfach stärker“, begrüßt auch Pfarrer Matthias Schmid von der Pfarrei St. Thomas Morus das ökumenische Engagement. Gerade mit Blick auf das Wahlergebnis und das Abschneiden der AfD müsse man den Bürgern signalisieren, dass die Hilfsbereitschaft ungebrochen sei. Angelegt ist das Projekt erst einmal auf ein Jahr. „Es besteht ein großes Interesse und es hat das Leben in den Gemeinden sehr belebt.“ Der Wunsch sei es, das „Ökumenische Flüchtlingsprojekt Gießen-Ost“ als feste Größe zu etablieren, stellte Pfarrer Klaus Friedemann Pötz klar. „Denn die Menschen aus Somalia wollen Deutsch lernen“, wirbt Mohamed Osman, Koordinator des Projekts, für den Deutschunterricht. „Die Menschen haben sonst keine Perspektive.“

„Deutsch ist echt hart“, lacht Muna und schlägt sich die Hände vor das Gesicht. Für die letzte halbe Stunde sind unterschiedliche Gruppen gebildet worden. Muna soll mit anderen Kursteilnehmern einige Wörter den zugehörigen Bildern zuordnen. Nicht mehr lange und die Unterrichtsstunde ist beendet. Heribert Ohlig und Ulrich Voigt gleichen die Anwesenheitsliste ab. Ulrich Voigt nimmt das Namensschild von Muna in die Hand und klebt einen blauen Punkt darauf. Es ist die Nummer 14, weitere werden noch folgen.

 


KEINE SPRACHKURSE WEGEN BLEIBEPERSPEKTIVE

Das neue Asylbewerberbeschleunigungsgesetz, das im Oktober beschlossen wurde, sieht vor, dass auch Asylsuchende Zugang zu Sprachkursen und Angeboten der Arbeitsförderung bekommen sollen – allerdings nur, wenn sie eine gute Bleibeperspektive haben. Eine gute Bleibeperspektive ist nach dem Gesetz aber nur zu erwarten, wenn ein Asylsuchender aus einem Herkunftsland stammt, das eine Schutzquote von über 50 Prozent aufweist. Die Anerkennungsquote der Flüchtlinge aus Afghanistan liegt bei 46,7 Prozent, Somalia kommt auf eine Quote von 25 Prozent und Pakistan auf 18,6 Prozent. Für die Dauer des Asylverfahrens haben sie daher nach wie vor keine Möglichkeit, an einem Sprachkurs oder an Fördermaßnahmen der Arbeitsagentur teilzunehmen.

 

 

Quelle: http://www.giessener-anzeiger.de/lokales/stadt-giessen/nachrichten-giessen/deutsch-ist-echt-hart_16733056.htm